Teil 22
Den Begriff life-work-balance auf uns Zweibeiner anzuwenden, ist mittlerweile recht gängig.
Auch mit dem Energiehaushalt von kleinen Silberfunken-Terriern – und allen anderen Hunden – möchte achtsam umgegangen werden.
Bei unseren Hunden beginnt man sich oft erst Gedanken in diese Richtung zu machen, wenn auffälliges, in den meisten Fällen von uns als störend empfundenes, Verhalten auf ein Stressproblem schließen lässt.
Oft ist es nicht einmal im eigenen Leben einfach, diese Balance zwischen Anforderungen des Alltags, manchen besonderen Herausforderungen, Freizeit(stress) und tatsächlicher Erholung zu finden. Wir alle wissen, wie belastend es sein kann, wenn längerfristig die Gewichtung nicht stimmt. Und dann sollen wir auch noch bei unseren Hunden solche Überlegungen anstellen und im Auge behalten, wie deren Energiebalance aussieht?
Ja, das sollten wir unbedingt!
Um unserer Vierbeiner willen zum Einen – bis ein Hund seine Schwierigkeiten diesbezüglich auffällig und unübersehbar zeigt, werden oft lange Zeit feine Signale von ihm gesendet, die aber im Alltag untergehen, bis der Hund nicht mehr kann und „laut“ werden muss.
Um unser selbst Willen zum Anderen – fehlende Fortschritte oder Rückschritte im Training, „nerviges“ , ständig „forderndes“ Verhalten, plötzliche Gesundheitsproblematiken, Themen mit Reaktivität, Aggressionsverhalten, oder Umdekorieren der Einrichtung beeinträchtigen unser Zusammenleben mit dem Hund massiv. Je eher wir die entstehende Negativspirale erkennen und aus ihr aussteigen, desto besser.
Dazu ist es wichtig, sich einen Überblick über den Tagesablauf, aber auch über die Verteilung von Aktivitäten und Ruhezeiten über etwas längere Zeiträume – pro Woche, pro Monat – zu verschaffen. Auch diese größeren Zeiträume sind von Bedeutung, weil Stressbelastungen oft noch nach Tagen Auswirkungen haben, die nicht unbedingt für uns wahrnehmbar sind, aber dennoch in den Gesamt-Belastungspool hineinfallen.
Im ersten Schritt macht es Sinn, die Aktivitäten unserer Hunde nach Oberbegriffen zu ordnen.
Was fällt unter „Arbeit“?
Grundsätzlich sind das Aktivitäten, für die unser Hund Energie aufwenden muss, und die daher größtenteils ins „Soll“ der Energiebilanz gehen. Kognitive Leistungen erbringen, Impulskontrolle aufwenden, körperliche Anstrengung, Verarbeiten von Reizen und das Bewältigen von Herausforderungen gehört in diese Kategorie.
Was in dieser Kategorie steht, ist so individuell wie unsere Hunde selbst – wir dürfen nur nicht der Annahme aufsitzen, dass alles, was dem Hund z.B. Spaß macht oder zu machen scheint, hier nicht hin gehört. Der positive Eustress (z.B. bei großer Vorfreude auf das Training oder einen Spaziergang) hat physiologisch die gleichen Auswirkungen wie Disstress (z.B. Überforderung durch den Aufenthalt in einer großen, lauten Menschenmenge).
In der Liste des kleinen Meister Gildin für die letzten zwei Wochen werdet ihr deshalb einige Dinge finden, die ihr hier vielleicht nicht vermutet hättet. Auch wenn viele davon in Zukunft seine Energie- und Stressbilanz verbessern werden, sind sie dennoch für den kleinen Terrier zuerst einmal unter Arbeit zu verbuchen.
Erweiterung des Lebensumfeldes
Gildin hat mutig den Garten erobert. Dabei wollen viele neue Eindrücke verarbeitet werden, eine neue Umgebung birgt viele kleine Herausforderungen.
Sind diese gemeistert und der Garten unter „positive Erfahrung“ abgespeichert, kann er später auch für Freizeit und Entspannung genutzt werden. Dazu ist eine kleinschrittige Vorgehensweise notwendig, die an keiner Stelle überfordernd ist.
Trainingseinheiten im Garten
Unsere Übungseinheiten werden ja von Gildin emotional sehr positiv bewertet – deshalb sind sie, wenn sie in die neue Umgebung „Garten“ verlegt werden, für ihn ein willkommener Anker. Ewas Wohlbekanntes in neuem Terrain gibt Sicherheit.
Im Video ist deutlich zu sehen, dass dem kleinen Terrier den Anblick seines blauen Balancepads und seines kleinen Schnüffelteppichs überaus willkommen sind. Dennoch arbeitet er hier.
Auf gänzlich neue Übungen verzichten wir aktuell – findet sich eine große Neuerung im Leben, werden die anderen Anforderungen herunter geschraubt, um Überforderung zu vermeiden.
Das sollte nicht nur für kleine Silberfunken-Terrier gelten.
Gebürstet werden
Für einen ursprünglich nicht anfassbaren Hund ist es eine enorme Leistung, mich einen bislang unbekannten Gegenstand auf Tuchfühlung an seinen Körper bringen zu lassen.
Die Verknüpfung mit der angenehmen Empfindung, wenn lose Haare und Hautschuppen entfernt werden, kann erst mit der Zeit wachsen.
Deshalb übernahmen wir den Schritt „hochwertige Belohnung für Hineingehen in die Berührung“ und für „freiwilliges Verweilen während des Berührtwerdens“ aus dem Anfasstraining. Daraus haben wir schrittweise die Berührung erst mit dem Handschuh, dann mit einem leichten, groben Hundekamm und nun letztlich das effektive Bürsten mit einer feinen Hundebürste heraus gearbeitet.
„Gebürstet werden im Garten“ war definitiv eine große Arbeitsleistung für den kleinen Gildin.
Zuerst einmal wurde daher einmal höflich nachgefragt, ob die Bürste akzeptabel ist.
und dann erst den kleinen Terrier striegeln.
Hoppla, ist euch etwas aufgefallen?
Das Bürsten seitlich am Hals hat Gildin abgelehnt.
Zeigen unsere Hunde bei einer Übung, die ja für sie Arbeit bedeutet, ein „Zuviel!“ oder ein „Nein!“, heißt es, einen Stopp und Pause einzulegen und die Aufgabe auf kleinere Teile herunter zu brechen, damit sie gut damit zurecht kommen. Arbeit darf und soll auch Spaß machen!
Also überlegt, wie man dem kleinen Terrier das Bürsten am Hals einfacher gestalten kann.
Schritt 1:
Erlernen einer passenden Haltung, die es mir gut ermöglicht, an seinen Hals zu kommen, und ihm, jederzeit weg zu gehen – Leckerli von der Gartensitzbank naschen bot sich an.
Nach einigen Durchläufen reihte sich das in das Repertoire der leichten Wohlfühl-Übungen ein, und die Bürste konnte dazu kommen. An diesem Tag war dies die einzige Übung, weil Gildin hier viel Arbeitsleistung erbringt.
Im Zusammenhang mit der Garten-Eroberung fanden sich in dieser Zeit noch viele weitere Situationen, die dem kleinen Terrier einen gewissen Energieaufwand abforderten:
mit der großen Schäferschwester gemeinsam im Garten sein (Mirli unglaublich höflich-neutral-beschwichtigend wie immer, danke mein großes Mädchen!)
das erste Mal beim wöchentlichen Lagerfeuer dabei sein
mitgehen, wenn man aus dem Garten wieder abgeholt wird usw. ...
Natürlich macht Gildin viel davon auch Spaß – aber denkt auch bei euren Hunden daran, dass alles, was ihnen Energie abfordert und eine Anpassungsleistung nötig macht – also per definitionem Stress bedeutet – unter Arbeit zu verbuchen ist!
Der nächste Punkt auf unserer Liste ist die „Freizeit“.
Wahrscheinlich wird dieser Punkt oft mindestens genauso missverstanden wie die Arbeitsleistung unserer Hunde, wodurch vermeintliche „Freizeit“ nicht auf die Habenseite der Lebensenergie-Balance fällt.
Freizeit zu haben sollte eigentlich die Zeit freiwilliger, wohltuender Beschäftigung sein.
Oft werden aber Trainingselemente oder Stress fördernde Spiele auch darunter verbucht.
„Mein Hund ist einfach nicht zur Ruhe zu kriegen, dabei laste ich ihn tagtäglich aus, wir laufen stundenlang, ich werfe ihm eine Stunde lang den Ball, wir verbringen Nachmittage in der Hundezone, zweimal die Woche sind wir beim Training, er darf immer überall mit hin, also hat er doch wohl Beschäftigung genug!“
In solchen Fällen ist die Schilderung des Problems gleichzeitig die Erklärung. Ein so beschäftigter Hund ist nicht aus-, sondern überlastet – und dafür genügt viel weniger als in diesem Beispiel dargestellt. Unser Beispielhund hat ganz viel Beschäftigung und keine Freizeit.
Da der Garten mittlerweile ein Wohlfühlort für Gildin geworden ist, verbringt er dort auch tatsächlich Freizeit: er erkundet, schaut und schnüffelt in aller Ruhe, zwischendurch bekommt er ein paar Leckerli im Gras ausgestreut, die er sich dann gemächlich heraus sucht.
Er macht ganz einfach „Hundedinge“, nach eigenem Gutdünken – und das ist tatsächlich Freizeit! Viele dieser Hundedinge erschließen sich uns Menschen allein schon deshalb nicht so leicht, weil wir eine völlig andere Gewichtung unserer Sinne haben. Wir schätzen es, in Ruhe ein Buch lesen zu können – ein für unsere Hunde völlig unverständlicher Zeitvertreib, von dem wir persönlich aber sehr profitieren.
Versuchen wir doch, unseren Hunden hier in ihrer Welt entgegen zu kommen – sie erkunden ihre Welt hauptsächlich über den Geruchssinn. Sie schnüffeln zu lassen, sich auf dem Spaziergang wirklich Zeit dafür zu nehmen, sie zufriedenstellende, selbstständige, ungestörte Beschäftigung mit ihrem ausgeprägtesten Sinn ausleben zu lassen, bedeutet tatsächlich wertvolle Frei-Zeit!
Auch Kausachen und Schleckspielzeug bieten sich hier für zuhause an, genauso wie unterwegs das Verweilen an einem guten Aussichtsort mit gemeinsamem, achtsamem Beobachten der Umgebung.
Letzteres tut übrigens auch uns Zweibeinern richtig gut!
Aus so gestalteter, tatsächlicher Freizeit, kann Hund auch gut zum Ruhen übergehen.
Der letzte, aber wichtigste Punkt auf unserer Liste ist die „Ruhezeit“
Hier lohnt es sich, wirklich genau hin zu schauen – ein Hund, der ins Körbchen geschickt wurde und dort in Habtacht-Stellung auf „Erlösung“ wartet, ruht nicht!
Um mit den ersten beiden Lebensbereichen – Arbeit und manchmal auch beanspruchender Freizeit – gut zurecht kommen zu können, sind ausgiebige, ungestörte, tatsächliche Ruhephasen wortwörtlich lebensnotwendig.
Einen zeitlichen Rahmen kann man ganz gut abstecken. Pro Tag sollte ein gesunder, erwachsener Hund mindestens 18, besser 20 Stunden ruhen, junge, ältere und/oder beeinträchtigte Hunde länger! Dazu zählen nicht nur der Schlaf an sich, sondern auch entspanntes Liegen ohne gesteigerte Aufmerksamkeit auf Umweltgeschehnisse und ungestörtes Dösen.
Gab es an einem Tag eine besondere Beanspruchung, folgt darauf mindestens ein wirklicher Ruhetag, gleichbedeutend mit ausschließlich tatsächlicher Freizeit und Ruhen.
Diese Zeiten sind einfach notwendig, damit unsere Hunde ihr System wieder auf Basislevel herunterfahren können und ihr Stressbehälter nicht sukzessive voll- und irgendwann überläuft.
Egal, ob beim neu angekommenen Hund aus dem Tierschutz oder dem Welpen, der einzieht – Ruhen zu lernen steht vor jedem „Sitz“, „Komm“ oder Gehen an der Leine!
Wenn der Hund das möchte – bei Welpen ist das höchstwahrscheinlich der Fall – bietet es sich an, viel Ruhezeit gemeinsam zu verbringen. Unerlässlich für jeden Hund ist ein Ort oder Bereich, den er als absolut sichere Zone betrachten kann, und in dem er niemals gestört wird, wenn er sich dorthin zurückzieht!
Gildin konnte zu Beginn nur zur Ruhe kommen, wenn er zuverlässig für sich bleiben konnte, weil er erst so seine ständige Besorgnis ablegen konnte. Auch heute sind solche Phasen für sein Wohlbefinden noch sehr wichtig, er hat seine Auswahl an Ruheplätzen aber mittlerweile erweitert:
Mittlerweile sucht er zum Entspannen und Ruhen auch immer öfter meine Nähe, und das ist wohl einer der größten Zugewinne unserer bisherigen gemeinsamen Zeit.
Es ist so leicht, sich bei der life-work-balance unserer Hunde zu verschätzen. Deshalb lohnt es sich, eine Zeitlang ein Hunde-Zeittagebuch zu führen oder sich die tatsächlichen Zeiten farbig in einen Raster einzutragen. Denn nur, was wir wirklich wissen, können wir ändern – unseren Hunden zuliebe!
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